Vor ein paar Tagen war bei meinem Handy plötzlich der Akku fast leer. Irgendein Programm oder eine App war im Hintergrund geöffnet, hatte sich wohl aufgehängt und den Akku fast leergesaugt. Die Ursache weiß ich bis heute nicht, aber plötzlich dachte ich mir: "Handy, I feel you!"
Bei mir ist es nämlich derzeit auch so: Irgendetwas läuft da ständig bei mir im Kopf im Hintergrund und entzieht mir wahnsinnig viel Energie, Lebensfreude und Optimismus. Die Suche nach den Schleifen in meinem Kopf brachte einiges zutage: In der ersten Schockphase im März hatte ich noch das Gefühl, dass der Kampf gegen das Coronavirus eine gemeinsame Sache wird. Inzwischen ist meine Wahrnehmung von Auseinandersetzungen geprägt: Parteien, Politikerinnen und Politiker, Wissenschafterinnen und Wissenschafter, Bundesländer, Nationen. Jeder gegen jeden lautet das Motto, nicht selten wird aus Gesundheitspolitik schnell ein "Beauty-Contest" zwischen Bundesländern oder gar Nationen. Eine Pressekonferenz jagt die nächste, bei mir herrscht schon längst der Eindruck, dass es deutlich mehr Pressekonferenzen als durchdachte Strategie-Entscheidungen gibt. Das Licht am Ende des Tunnels – es könnten auch die Lichter jenes Zuges sein, der uns im Tunnel auf unserem Gleis entgegenkommt.
Aufbrechende Gräben
Das färbt auch auf das Verhalten der Menschen ab: Die Stimmung wird aufgeheizter, aggressiver. Jeder fängt an, seine eigenen Theorien und Einstellungen vehement zu verteidigen, im Familien- und Freundeskreis brechen Gräben auf. Freunde erzählen mir von zahlreichen "Entfreundungen" auf Facebook, weil sich verschiedenste Einordnungen und Einschätzungen zur Corona-Krise unversöhnlich gegenüberstehen.
Von Freunden und Bekannten weiß ich, dass die Situation in Familien mit Kindern noch einmal um eine Komplexitätsstufe schwieriger ist. Die Ungewissheit – nein, das Chaos, das sich in den Schulen und Kindergärten bereits seit längerem abzeichnet und in den kommenden Wochen wohl voll durchschlägt – stellt für alle Beteiligten eine riesige Belastung dar. Auch hier tauchen wieder zahlreiche Dilemmata auf: Einerseits muss ich als Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer oder als Unternehmerin oder Unternehmer gerade in Zeiten wie diesen auf meine Arbeit beziehungsweise meinen wirtschaftlichen Erfolg achten, aber gleichzeitig sind familiäre Aufgaben zu erfüllen, die ebenso viel Energie in Anspruch nehmen. Was zurücknehmen? Was priorisieren? Mit welchen Auswirkungen?
Eine weitere, schier unlösbare Dauerschleife spielt sich bei mir im Hirn ab: Ich habe ständig gleichzeitig das Gefühl, zu vorsichtig oder zu wenig vorsichtig zu sein. Sollen wir, ja müssen wir trotz Krise eine gewisse Lockerheit bewahren? Aber führt uns diese Lockerheit dann nicht geradewegs ins Verderben? Reichen meine persönlichen Vorsichtsmaßnahmen? Aber sind die nicht vielleicht schon geprägt von einer übertriebenen Ängstlichkeit?
Wie ein Eichhörnchen
Diese (wohl unlösbare) Ambivalenz geht im beruflichen Kontext weiter. Hier bringt das Virus natürlich auch viele Unsicherheiten mit sich. Als Unternehmer kann ich sagen: Bisher bin ich mit einem blauen Auge davongekommen, ich will wirklich nicht jammern. Andere Branchen und Unternehmerinnen und Unternehmer hat es viel härter erwischt. Aber was bringen die nächsten Monate? Obwohl situationsbedingt die psychische Belastung groß ist, arbeite ich so viel und intensiv wie selten zuvor, weil "wer weiß, wie lange es noch geht". Oder wie es eine befreundete Unternehmerin ausdrückt: "Ich sammle derzeit Aufträge wie ein Eichhörnchen Nüsse vor dem Winter, damit ich für schlechte Zeiten gerüstet bin." Und leider befürchte ich auch, dass uns das dicke (wirtschaftliche) Ende noch bevorsteht.
Darüber hinaus schwebt im Hintergrund auch immer die Sorge um Familienmitglieder, die erhöhten Risiken ausgesetzt sind. Zuletzt habe ich immer auch ein wenig Angst vor einer Ansteckung, weil ich (leider) schon genug Horrorgeschichten von Menschen in meinem Alter gelesen habe, denen das Virus übel mitgespielt hat.
Schwer kombinierbare Gegensätze
Es sind wohl die zahlreichen, miteinander schwer kombinierbaren Gegensätze, die sich derzeit in unseren Köpfen duellieren und uns in ihren Dauerschleifen die Energie rauben. Kombiniert mit einem Gefühl der Ohnmacht eine große Belastung. Was also tun? Aus den zahlreichen Reaktionen auf meine Gedanken, die ich auch auf Facebook und Twitter geteilt habe, habe ich mitgenommen: Es ist jedenfalls tröstlich, dass es vielen anderen Menschen derzeit offenbar genau gleich geht. Einige raten zu mehr Aufenthalten in der Natur und weniger Nachrichtenkonsum. Letzteres scheint vernünftig, fällt mir als Medienjunkie aber irrsinnig schwer. Ein Geschäftspartner hat mir erzählt, er zwinge sich immer öfter zum Gedanken, das Leben mit dem Virus zu akzeptieren – und nicht auf ein baldiges Ende der Situation zu spekulieren beziehungsweise zu hoffen.
Hickhack in der Politik. Unversöhnliche Standpunkte im privaten Umfeld, Interessenkonflikte in den familiären und beruflichen Bereichen. Dazu die Angst vor Erkrankung, bei geliebten Menschen oder bei sich selbst. Ambivalenz, egal wo man hinsieht. Kein Wunder, dass ich müde bin. Sie auch?
(Dieser Artikel wurde am 28.09.2020 in der Printausgabe des "Standard" und online veröffentlicht. Fotocredit: CDC on Unsplash)